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Wer war Ulrike Meinhof?

10/1/2001

Betreff:   zur Veranstaltung

Presseinformation für
Ulrike Meinhof

Premiere: Montag 22. Oktober 2001 im kosmos.frauenraum
im Rahmen der Reihe HISTÖRRISCHE FRAUEN

mit Julia Köhler
Regie: Dana Csapo
weitere Vorstellungen: Mi 24. Oktober bis Sa 27. Oktober, 20.30 Uhr

Zum Stück:
Wer war Ulrike Meinhof?
Die mysteriöse Figur des Terrorismus in Deutschland war eine Journalistin, die als Erste im Nachkriegsdeutschland soziale Ungerechtigkeit zu ihrem zentralen Thema machte. Verzweifelt über die politische und gesellschaftliche Situation entscheidet sie sich, ihre Kinder zu verlassen und in den Untergrund zu gehen, um die Rote Armee Fraktion (RAF) mitzubegründen.

„Ich habe keine Lust mehr ein Autor zu sein, der die Probleme der Basis, z. B. der proletarischen Jugendlichen in den Heimen, in den Überbau hievt, womit sie nur zur Schau gestellt werden, dass sich andere daran ergötzen, zu meinem Ruhm. Das ist wirklich mein Problem.

Ändern wird sich nur etwas, wenn die Unterdrückten selbst handeln. Wer sie dabei unterstützen will, muss es praktisch tun, muss den Unterdrückten selbst helfen, sich zu organisieren, zu handeln, ihre Forderungen durchzusetzen ... Es kommt darauf an, selbst mitzumachen.

Was ich vorhabe, ist politisch zu arbeiten. Es ist nur konsequent und ich zum Glück noch nicht so korrupt, dass ich es nicht noch ticken konnte.“

Originaltexte und Klangräume sollen die Zeit und die Umstände der Person Ulrike Meinhof erfahrbar und nachvollziehbar werden lassen.

Kurz:
Wer war Ulrike Meinhof?
Die mysteriöseste Figur des Terrorismus in Deutschland war eine Journalistin, die als Erste im Nachkriegsdeutschland soziale Ungerechtigkeit zu ihrem zentralen Thema machte. Verzweifelt über die gesellschaftliche Situation, entscheidet sie sich 1970 ihre Kinder zu verlassen und in den Untergrund zu gehen um die Rote Armee Fraktion (RAF) mitzubegründen.
„Ich habe keine Lust mehr ein Autor zu sein...

Ändern wird sich nur etwas, wenn die Unterdrückten selbst handeln. Wer sie dabei unterstützen will, muß es praktisch tun, muß den Unterdrückten selbst helfen, sich zu organisieren, zu handeln, ihre Forderungen durchzusetzen... Es kommt darauf an selbst mitzumachen...“


Kolumnen von Ulrike Meinhof:

Hitler in euch

Der Versuch, zwölf Jahre deutscher Geschichte zum Tabu zu machen, ist mißlungen. Es hat sich erwiesen, daß im Deutschland von 1961 nicht ungeachtet von Stalingrad, Auschwitz und Buchenwald gelebt werden kann!

Mitten in diesen Fronten zwischen Geschichte und Politik, Klägern, Angeklagten und Beklagten steht die junge Generation. Unbeteiligt an den Verbrechen des Drittes Reiches, ist sie in die Verantwortung dessen geraten, was sie nicht verschuldet hat.

Der Studentenschaft kommt in diesem Bezug ein Primat zu. Wie keiner anderen Bevölkerungsgruppe sind ihr Quellen und Tatsachen zugänglich, darüber hinaus wird sie selbst in

wenigen Jahren in Universität, Schule und Staat maßgeblich an der Durchführung dessen beteiligt sein, was sie heute fordert.

Anläßlich des Eichmann-Prozesses hat Dieter Bielenstein, der Pressereferent des Verbandes Deutscher Studentenschaften eine spezifische Antwort der Jüngeren versucht, die wir hier zitieren wollen, um dann noch einiges hinzuzufügen:
„ Mit dem Prozeß gegen Adolf Eichmann steht das Unrecht in unserer Geschichte wieder riesengroß in der Gegenwart vor uns. Wenn wir das richtig begreifen, werden wir nicht sagen können, diese und jene wären die Mörder; wir hätten es nur geduldet. Die Älteren werden sich erinnern müssen, daß an den Hausecken die Nazi-Plakate „Juda verrecke!“ hingen und daß sie trotzdem oder oft deswegen Hitler wählten. Dann verschwanden nachts und im Morgengrauen die jüdischen Nachbarn und Freunde - wir schwiegen, waren zu feige, zu fragen „wohin?“, oder es war uns auch recht so. Die Studentenschaft der Weimarer Zeit war militant antisemitisch, noch ehe die Nationalsozialisten von sich reden machten. Die Studenten von damals sind unsere heutigen Hochschullehrer, unsere Rechtsanwälte, Lehrer, Journalisten, Verwaltungsbeamten und unsere Eltern.

Wir können zu diesem Problemkreis nicht schweigen, wir als Studenten wollen eine Position beziehen und die Vergangenheit nicht ruhen lassen und wir erwarten von den Älteren eine Antwort. Wenn das Schweigen an den Hochschulen ein Festhalten am Ungeist und wenn Äußerungen eine Dokumentation des Unbelehrbaren sind, werden wir nicht warten zu sagen, dass an unseren Hochschulen kein Platz ist, für die, die Konsequenzen aus der deutschen Katastrophe nicht zu ziehen vermögen.“

Aber Bielenstein beschränkt sich auf die Kritik an den sogenannten „Alten Nazis“ und auf die Bemühungen der deutschen Studentenschaft um ein gutes Verhältnis zum Staat Israel. Wer aber von den «Alten Nazis« spricht, sollte auch den zweiten Schritt wagen: wer den Antisemitismus geißelt, muß der Freiheit, wo sie heute bedroht ist, das Wort reden. Die Antwort auf die Konzentrationslager liegt nicht in ihrer Abschaffung, sondern liegt in der totalen Gewährleistung politischer Freiheit für politische Gegner; die Antwort auf den Polenfeldzug liegt nicht in der Ablehnung diplomatischer Beziehungen zur Regierung in Warschau, - der Ausschluß jüdischer Studenten von den Universitäten im Jahre 1933 nicht in Polizeiaktionen gegen farbige Studenten im Jahre 1961, Die Antwort auf den Nationalsozialismus in seiner Totalität muß innen- und außenpolitisch gefunden werden, für heute und morgen; sie heißt: Freiheit für den politischen Gegner, Gewaltenteilung und Volkssouveränität, sie heißt: Versöhnung mit dem Gegner von damals, Koexistenz statt Krieg, verhandeln statt rüsten. Wie wir unsere Eltern nach Hitler fragen, so werden wir eines Tages nach Herrn Franz Josef Strauß gefragt werden.
(konkret 10/1961 oder 5/1966)


Falsches Bewußtsein

Emanzipation war eine Forderung an Staat und Gesellschaft, Gleichberechtigung dagegen wird pauschal gegen die Männer erkämpft. Berufstätigkeit gibt dabei der Frau eine partielle Unabhängigkeit, erlaubt ihr auch, als selbstständiger Konsument aufzutreten.

In einer Welt, in der der Wert des Menschen an seinem Einkommen gemessen wird, ist diese Konsumenten­selbstständigkeit naturgemäß die höchste; mit Recht hält man von diesem Standpunkt aus die berufstätige Frau für emanzipiert. Indem sie den Arbeitskräftebedarf von Wirtschaft und Administration erfüllt und zugleich ihr Scherflein zur Zirkulation von Produktion und Verbrauch beiträgt, sich also systemkonform und angepaßt verhält, verhält sie sich richtig.

Kurzgeschlossen: Wenn Emanzipation ein Wert ist und Berufstätigkeit richtiges Verhalten, ist Berufstätigkeit Emanzipation.

Aber die Frauen sitzen in der Klemme, in der Klemme zwischen Erwerbstätigkeit und Familie, genauer: Kindern- vorhandenen, zu erwartenden, gehabten. Haushalt bedeutet Isolierung- „über das Fleisch, das euch in der Küche fehlt- wird nicht in der Küche entschieden.“ (Brecht) Hausarbeit im Haus hat keinen Bezug mehr zu gesellschaftlichen Prozessen, hauptsächlich wird sie durch die Herstellung der Artikel des täglichen Bedarfs in der Industrie vom Frauen erledigt.

So ist die Unvereinbarkeit von Hausarbeit und Kinderbetreuung entstanden. Auf die Erwerbstätigkeit der Frauen kann beim gegenwärtigen Stand der Industrialisierung nicht mehr verzichtet werden. Was dabei mit den Kindern geschehen soll, ist ein noch ganz und gar ungelöstes Problem. Dabei kann überhaupt nicht ehrlich darüber diskutiert werden, ob außerhäusliche Erwerbstätigkeit und Kleinkinderbetreuung vereinbar sind- sie sind es nicht. Selbst Omas und nette Nachbarinnen sind nur ein unzulänglicher Ersatz für die Mutter als ausschließliche Bezugsperson. Das ist in zahllosen Untersuchungen und Veröffentlichungen nachgewiesen worden, müßig, darüber noch zu streiten.

Gewiß ist eins: die durch die veränderte Stellung der Frau entstandenen Probleme hinsichtlich der Familie und den Kindern können nicht von den Frauen allein gelöst werden, dafür muß die Öffentlichkeit, die Gesellschaft einstehen. Noch tut sie es nicht. Laut Frauenbericht müßte allein der Bestand an Kindergärten um wenigstens ein Drittel erhöht werden- eine Zahl, die vermutlich nur auf die Spitze des Eisberges, des Bedarfs, Bezug nimmt, während die unzähligen Notlösungen der Mütter nicht als Bedarf rechnen.

Statt den Frauen bei der Lösung des Problems zu helfen, kritisiert man sie seit über hundert Jahren. „Mütterarbeit“ ist das Stich- und Schimpfwort. Ihr eigenes Versagen hat die Gesellschaft mit dem Angriff auf die Mütter kompensiert, den Anspruch so gar nicht erst anerkannt, ihn an die Mütter zurückgegeben.
Wie aber soll eine Arbeiterin um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen kämpfen, wenn sie ihre Berufstätigkeit für eine Verfehlung ihrer wahren Bestimmung halten muß und sie außerdem für vorübergehend hält, sich von eventuellen Verbesserungen also für sich selbst nichts versprechen kann? Wenn zur Demütigung durch schlechtere Löhne noch die Verdächtigung hinzu kommen, sie verhielte sich falsch? Sie sitzt in der Klemme. Im Haus, wo sie hingehört, kann sie nicht kämpfen, im Betrieb, wo sie kämpfen mußte, ist sie fehl am Platz. Im Haus sind die Kinder oder kommen, im Betrieb ist die Arbeit. Was anderes soll sie tun, als sich abrackern? „Nachdenken, woher sie kommen und Wohin sie gehen, sind sie an den schönen Abenden zu erschöpft.“ (Brecht)

Die studierten, besser gestellten Frauen sind von dieser Problematik betroffen und auch nicht. Obwohl sie sozial weiter oben sind, gerieten Sie in das Schußfeld der Attacken gegen Mütterarbeit, in die Ideologisierung der Mutterrolle, die Mädchenerziehung zu Hausfrau und Mutter. Das kulminiert, wenn sie Kinder kriegen, Mutterschaft kennt keine sozialen Unterschiede. Bei der neuen Rollenfindung ist die gebildete Frau auf die gleichen Mittel angewiesen wie die Arbeiterin, setzt sich -wie diese- dem Verdacht aus, in der Mutterschaft nicht aufgehen zu wollen, gerät psychologisch unter den gleichen Druck, oft auch in die praktisch gleichen Schwierigkeiten, mangels Kindergärten und Haushilfen. Sie gerät in die Klemme, Wenn auch nur vorübergehend, da ihr in der Regel mehr Mittel zur Verfügung stehen, die Probleme zu lösen. Ihre wenig rationalistische, nahezu nie gesellschaftskritische Universitätsausbildung gibt ihr nicht die Möglichkeit, ihre Lage als Teil einer größeren Auseinandersetzung zu begreifen, die mit ihr persönlich nur bedingt zu tun hat. Ihre Phantasie, ihr Einfühlungsvermögen und ihre Erfahrungen reichen selten aus, sich in die Lage ihrer arbeitenden Geschlechtsgenossinnen in Industrie und Handel vorzustellen, ihre Moral und ihr gesellschaftspolitisches Wissen nicht, sich mit ihnen zu solidarisieren.

Der Protest ist fällig. Er findet nicht statt.
( aus: Emanzipation und Ehe, Hrsg. Christa Rotzoll, München 1968)


Gegen Gewalt

“Wenn aber dreihundert einen einzelnen fertigmachen -das ist, zu welchen erhabenen Zwecken es auch immer die­nen mag, Terror.“ „Damals (1933) wie heute wurde ein mystisch-biologischer Wert jung einem mystisch-biologischen Unwert alt entge­gengestellt.“ „Terror von links ist (...) aber an überprovinziellen Maßstä­ben gemessen kein bißchen humaner als Terror von rechts.“

So einfach macht sich das Rudolf Walter Leonhardt von der Zeit (29.12.67), so leicht ist es, denen, die über die Ent­wicklung an den deutschen Hochschulen gegenwärtig eher unglücklich als glücklich sind, aus dem Herzen zu sprechen.

Da braucht man bloß die Forderung nach rationaler Dis­kussion in “welche erhabenen Zwecke auch immer“ umzufäl­schen, denn erhabene Zwecke werden nun mal nicht durch vernünftige Diskussionen erzielt, schon ist ein Professor, der sich der Diskussion nicht stellt und dabei die Nerven verliert, „fertiggemacht“ worden.
Da braucht man bloß den Protest gegen bestehende Herr­schaftsverhältnisse und gegen eine Autorität, die schon Tau­sende von Studenten fertiggemacht hat, sei es, daß müh­sam erarbeitete Seminararbeiten statt mit Argumenten mit Zensuren abgefertigt wurden, sei es, daß wißbegierige, auf­klärungsbedürftige Studenten statt mit Wissen mit Ideologie, statt mit kritischen Methoden mit Glaubenssätzen abgefüt­tert wurden, da braucht man bloß den Protest gegen die Ordinarienautorität in einen Generationenkonflikt umzu­fälschen und eben diesen dann und ganz richtig „mystisch-biologisch“ zu nennen, schon funktioniert die Gleichstellung von Braun und Rot, die Gleichstellung von Unterdrückung und dem Protest gegen Unterdrückung. Als hätte der Faschis­mus in Deutschland nicht die deutsche Arbeiterbewegung zerschlagen, sondern als hätten NS-Studenten nur alte Pro­fessoren attackiert, als wäre es nicht der Auftrag des Faschis­mus in Deutschland gewesen, die Chance von Sozialismus in Deutschland auf Jahrzehnte zu liquidieren, als wäre mystisch-biologisches Denken der Motor des Faschismus gewesen, nicht nur sein Instrument, sondern seine Grund­lage.
Und da braucht man dann nur noch an „überprovinzielle Maßstäbe“ zu appellieren, was sehr viel leichter ist, als zu sagen, was man darunter versteht, schon ist Terror von links gleich Terror von rechts - so einfach ist das, jedenfalls in Deutschland, wo Faschismus immer noch für eine Rüpelei gehalten wird, eine Verirrung des deutschen Gei­stes, ein Mißgeschick der deutschen Geschichte, ein Schick­salsschlag ohne gesellschaftliche Ursachen und irgendwo vielleicht doch unter ferner liefen auch ein „erhabener Zweck“ -nur mit den falschen Mitteln durchgesetzt?

Als bei der Hamburger Immatrikulationsfeier („Unter den Talaren Muff von tausend Jahren“) im vergangenen Novem­ber ein paar SDS-Studenten die Feier störten und diese Stör­versuche während des wirtschaftswissenschaftlichen Vortrags des neuen Rektors allmählich heftiger wurden und allmäh­lich unüberhörbar und für den Vortrag des neuen Rektors unerträglich, der Schillers Wirtschaftspolitik rechtfertigte und antigewerkschaftliche Thesen vortrug, wie z. B. die These von der Lohn-Preis-Spirale und über Entwicklungshilfe re­dete, als gäbe es keine Ausbeutung der Dritten Welt, als das allmählich einer Mehrheit der Studenten im Auditorium maximum zuviel wurde und sie eben diesen reaktionären Vortrag nicht länger unwidersprochen hinnehmen wollte, nicht schweigen wollte, wo die Arbeiterschaft beleidigt und der deutsche Imperialismus gerechtfertigt wurde, da gab es einen Punkt, wo die Stimmung endgültig gegen Rektor und Professoren und Feierlichkeit und lmmatrikulationsbrimbori­um umzuschlagen drohte und keiner sein eigenes Wort mehr verstand und kein Mikrophon dagegen ankam und die Feier zu platzen drohte. Da ging der AStA-Vorsitzende ans Mikro­phon, der zuvor im Sinne der Studenten ein Abc der Miß­stände an der Hamburger Universität vorgetragen hatte, dem man zuzuhören bereit war. Der sagte, wenn man mit dem neuen Rektor diskutieren wolle, solle man es hinterher tun, man solle ihn zuvor ausreden lassen, denn so, mit Geschrei und mit Lärm, so ginge es ja auch nicht. Da redete der Rek­tor weiter, und die Stimmung gegen ihn blieb unterdrückt, man schwieg diszipliniert, wie sich das gehört. Aber als der Rektor fertig war, setzte sofort und mit großem Schwung das Orchester ein, die Professoren hielten ihren Auszug, einer rief den Studenten noch zu, sie gehörten alle ins KZ, und einer rief ihnen zu, sie sollten aufpassen, daß sie nicht Fälle für den Psychoanalytiker würden. So wurde es ihnen gedankt, daß sie den Rektor hatten ausreden lassen. Ohn­mächtig mußten sie es erleben, wie das Wort des AStA-Vor­sitzenden vom Rektor mißbraucht wurde, indem dieser zwar die disziplinierte Ruhe nutzte, um auszureden, nicht aber den Mißbrauch des Studentenorchesters verhinderte, das einfach losspielte, so daß das Versprechen des AStA-Vor­sitzenden, es würde hinterher diskutiert, uneingelöst blieb. So konnte in einem deutschen Auditorsum maximum der Großen Koalition in Bonn alles Gute gewünscht werden, und wirtschaftswissenschafiliche Theorien konnten unwider­sprochen vorgetragen werden, die alles andere als antifaschi­stisch waren, und der Toten des vergangenen Jahres konnte ohne Erwähnung von Benno Ohnesorg gedacht werden, und eine Studentenschaft war gezwungen worden, einen Rektor ausreden zu lassen und ihren Widerspruch dagegen zu unter­drücken, der die Waffe der Wissenschaft gegen die Gewerk­schaften schmiedete und gegen die revolutionären Bewegun­gen in der Dritten Welt.

Daß diese Studentenschaft sich das nicht mehr bieten läßt, daß die Studenten jetzt entschlossen sind, reaktionäre Profes­soren nicht ausreden zu lassen und junge Semester infolge­dessen nicht mehr wertvolle Jahre verlieren, bis sie das alles durchschauen, sondern früher als frühere Generationen anfangen können, kritisch zu studieren, das macht die Uni­versität nicht „als ein Zentrum der Forschung und Lehre funktionsunfähig“, sondern über­haupt erst funktionsfähig. Die Studenten haben freilich durch bittere Erfahrungen -wie z. B. durch die Hamburger lmmatrikulationsfeier -begriffen, daß sie das nicht leise und vornehm durchsetzen können, sondern nur lärmend und rigoros. Sie haben begriffen, daß die feierlichen Formen und die anständige Ordnung nicht schmerzlos und ungebrochen Platz für kritische Inhalte und demokratische Diskussionen einräumt, daß einigen Professoren einige bittere Erfahrungen nicht erspart werden können, wenn sie nicht anders mit sich reden lassen wollen.

Wenn einige Professoren dabei das Gefühl haben, sie wür­den fertiggemacht, nur weil die Studenten sich nicht mehr fertigmachen und abfertigen lassen, dann müssen diese Pro­fessoren aufgefordert werden, endlich einmal über sich selbst nachzudenken.
So verhärtet man antidemokratisches und antisozialistisches Ressentiment, so macht man jene Professoren noch hilfloser gegenüber den Studenten, die ohnehin auf die Forderung nach rationaler Diskussion mit irrationaler Angst reagieren, so verteufelt man die Studenten, die begründet und begreif­lich die rationale Diskussion fordern, zu der sie selbst erfah­rungsgemäß bereit sind. Eben das den Professoren klarzu­machen, scheint aber gegenwärtig anders als durch Lärm und absolute Ungeduld nicht möglich zu sein. Das Terror nennen, heißt den Notwehrcharakter der studentischen Aktionen übersehen, wie man am Beispiel der Hamburger Immatrikulationsfeier sah, wie man es an zahllosen Veran­staltungen an deutschen Universitäten gegenwärtig erleben kann.
(konkret Nr. 2, 1968)


Warenhausbrandstiftung

Gegen Brandstiftung im allgemeinen spricht, daß dabei Menschen gefährdet sein könnten. Gegen Warenhausbrandstiftung im besonderen spricht, daß dieser Angriff auf die kapitalistische Konsumwelt eben diese Konsumwelt nicht aus den Angeln hebt, sie nicht einmal verletzt. Den Schaden - sprich Profit - zahlt die Versicherung. Dem Problem der Übersättigung wäre damit mit einem Mittel abgeholfen, das sich so sehr nicht von den Mitteln unterscheidet, mit denen sich die Industrie bisher noch selber zu helfen weiß. So gesehen, ist Warenhausbrandstiftung keine antikapitalistische Aktion, eher systemerhaltend, konterrevolutionär. Das progressive Moment einer Warenhausbrandstiftung liegt nicht in der Vernichtung der Waren, es liegt in der Kriminalität der Tat, im Gesetzesbruch. Das Gesetz, das da gebrochen wird durch Brandstiftung, schützt nicht die Menschen, sondern das Eigentum. Das Gesetz soll die, die das alles produzieren, von ihren Produkten fernhalten. Daß die Brandstifter mit den Produkten tun, was sie wollen, das Gesetz brechen, das nur dem sog. Eigentümer erlaubt, mit ihrem Eigentum zu machen was sie wollen, das Gesetz brechen, das die Logik der Akkumulation (Ansammlung, Überfluß) schützt, nicht aber den Mernschen vor dieser Logik und ihren barbarischen Folgen, dieser Gesetzbruch ist das progressive Moment einer Warenhausbrandstiftung. Hat also eine Warenhausbrandstiftung dies progressive Moment,:
das verbrechenschützende Gesetze dabei gebrochen werden; so bleibt zu fragen, ob es vermittelt werden kann, in Aufklärung umgesetzt werden kann. Was können die Leute mit einem Warenhausbrand anfangen? Sie können das Warenhaus plündern. Der Ghetto-Schwarze, der brennende Geschäfte plündert, erfährt, daß das System nicht zusammenbricht, wenn er sich kostenlos beschafft, was er dringend braucht, sich aber aufgrund seiner Armut und Arbeitslosigkeit nicht kaufen kann. Er kann lernen, daß ein System faul ist, das ihm vorenthält, was er zum Leben braucht. Die Waren dagegen, die aus Frankfurter Kaufhäusern weggeschleppt werden könnten, wären kaum die, die wirklich gebraucht werden. (Ausgenommen Geschirrspülmaschinen, die in den Statistiken über Haushaltsgeräte in deutschen Haushalten noch kaum vorkommen, obwohl es fast 10 Millionen erwerbstätige Frauen in der Bundesrepublik gibt, sie müßten sie alle haben. Die sind aber nicht nur zum kaufen zu teuer, sondern zum Wegschleppen auch zu schwer.)
So bleibt, daß das, worum in Frankfurt prozessiert wird, eine Sache ist, für die Nachahmung - nicht empfohlen werden kann. Es bleibt aber auch, was Fritz Teufel auf der Deligiertenkonferenz des SDS gesagt hat: "Es ist immer noch besser, ein Warenhaus anzuzünden, als ein Warenhaus zu betreiben." Fritz Teufel kann manchmal wirklich sehr gut formulieren.
(konkret Nr. 14/ 1968)


Wasserwerfer — auch gegen Frauen

Eine Polemik gegen Rudolf Augstein (Herausgeber des „Spiegel“) und Konsorten

Der Knall, der die studentische und die außerparlamentarische Opposition in die internationale wie gutnachbarliche in die große und kleine Öffentlichkeit katapultierte kam von dem Schuß gegen Benno Ohnesorg am 2.6.1967 in Berlin. Seitdem nimmt die Weltpresse von ihnen Notiz, und sie sind Gesprächsgegenstand am Abendbrotstisch, seitdem machen sie Schlagzeilen und erzeugen Familienkräche
Endlich gibt es wieder Generationskonflikte, Konflikte zwischen Meinungsgegnern, Freunden und Feinden. Endlich wird nicht mehr alles Ärgerliche vertuscht, alles Peinliche verschwiegen, Übelkeit nur mit der Pille erklärt, Trauer mit Kaffee bekämpft, Magenschmerzen mit Pfefferminztee, Depression mit Sekt.
Nicht Arbeitskämpfe haben diese Gereiztheit erzeugt, son­dern studentische Aktionen: sie haben bewirkt, daß die tat­sächlich vorhandenen Widersprüche dieser Gesellschaft wie­der kenntlich geworden sind.
Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig

Die Sache begann am 2. Juni weltöffentlich zu werden. Durchaus am 2. Juni schon schieden sich die Geister. Schon die Kommentare zum 2. Juni enthielten und enthüllten jene Abwehrmechanismen und Verschleierungsmodelle, mit de­nen seither diejenigen arbeiten, die kein Interesse daran haben, daß gesellschaftliche Konflikte sichtbar werden.
Verschleierungsmodell 1:
Die bürgerliche Wohlanständigkeit als Wert an sich Rudolf Augstein in seinem ersten Kommentar nach dem 2. Juni
„Mir, dem Fernsehzuschauer, gefal­len Parolen wie „Mörder Johnson“ oder „Schah- Hitler- Ky“ auch nicht. Wer protestieren will, soll auch denken, wer etwas zum Ein­sturz bringen will, muß sich selbst etwas einfallen lassen.“
Ob Schah und Ky mit Hitler vergleichbar sind, ob die Stigmatisierung Johnsons als Mörder objektiv wahr ist, beschäftigt Augstein nicht, nicht, ob die, die das sagen, nicht vielleicht doch schon gedacht haben. Ihn wie den kleinen Mann in der Provinz schockt die Verletzung der bürgerlichen Wohlanständigkeit.
Das fanden auch die Lübecker Nachrichten:
„daß der mit faulen Eiern, Tomaten und Milchtüten inszenierte Krawall kein unseres akademischen Nachwuchses würdiges Mittel der Auseinandersetzung ist.“

Wo es um die bürgerliche Wohlanständigkeit geht, reagie­ren Springer, Provinzpresse und Augstein gleich spießig, geht ihnen bürgerliche Reputation vor Entlarvung .

Verschleierungsmodell 2:
Die Unschuld des Systems
Die Frage nach dem System, das den Polizeiterror in Berlin hervorgebracht hat, nach dem System, das lieber seine Opposition zusammenschlägt und -schießt, als auf die Hul­digungen für einen Polizeistaatschef zu verzichten, die Frage nach den System bleibt tabu.
Vom Glauben an die Sinnlosigkeit und Unerklärbarkeit von Benno Ohnesorgs Tod, vom Glauben an die Unschuld des Systems ist es nur noch ein Schritt zu der Formel, nicht der Mörder, der Ermordete sei schuldig.
Die Berliner BZ am 3.6.: „Wer den Terror produziert muß Härte in Kauf nehmen.“
Die Welt am Sonntag am 4.6.: „Die Randalierer, die die blu­tigen Zwischenfälle provozierten .“.

Verschleierungsmodell 3:
Die Ordnung ist in Ordnung, verwirrt sind die andern
Wenn das System tabu ist; ist die Ordnung in Ordnung, weiß der Teufel, wer die Polizei entmenscht hat Dann müssen eben die, die Verwirrung gestiftet haben, verwirrt sein.
Bild (3.6.): »Halbstarke Wirrköpfe.“
Hamburger Abend­blatt (5.6.): „Dümmliche Halbstarke“
Eben diesen Vorwurf, verwirrt zu sein, politisch halbblind, sich nicht erklären zu können, erhebt denn auch Rudolf Augstein seither.

Sie rücken sich näher, die liberale Presse, die Springer- und die Provinzpresse. Nicht einfach‚ weil sie absichtlich und strikt daran interessiert sind, die bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu erhalten, sondern wohl auch, weil es für sie keine Notwendigkeit gibt, sie mit­zureflektieren, weil sie sich unter den bestehenden Verhält­nissen ganz wohl fühlen.
Es ist ja tatsächlich schwer vorstellbar, daß bildzeitung­lesende Massen hier und analphabetische Massen in Persien und kinderreiche, vor sich hin dösende Massen in Südameri­ka fähig werden könnten, ihr Leben und Geschick selbst in die Hand zu nehmen, ihre Interessen selbst zu organisieren und zu vertreten.
Dieser Prozeß aber hat in Vietnam begonnen, er ist denk­bar geworden, die Studenten haben angefangen, das bekannt und begreiflich zu machen - eine Presse, die ihnen dabei behilflich wäre, gibt es nicht.
(konkret Nr. 4, 1968)


Vom Protest zum Widerstand

„Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht. Protest ist, wenn ich sage, ich mache nicht mehr mit. Widerstand ist, wenn ich dafür Sorge, daß alle andern auch nicht mehr mitmachen.“
So ähnlich - nicht wörtlich - konnte man es von einem Schwarzen der Black-Power-Bewegung auf der Vietnamkonferenz im Februar in Berlin hören.
Die Studenten proben keinen Aufstand, sie üben Wider­stand. Steine sind geflogen, die Fensterscheiben vom Sprin­gerhochhaus in Berlin sind zu Bruch gegangen, Autos haben gebrannt, Wasserwerfer sind besetzt worden, eine BILD-Redaktion ist demoliert worden, Reifen sind zerstochen wor­den, der Verkehr ist stillgelegt worden, Polizeiketten durchbrochen - Gewalt, physi­sche Gewalt wurde angewendet. Die Auslieferung der Sprin­gerpresse konnte trotzdem nicht verhindert werden, die Ord­nung im Straßenverkehr war immer nur für Stunden unter­brochen. Die Fensterscheiben wird die Versicherung bezah­len. Der Wasserwerferbestand der Polizei wurde nicht ver­kleinert, an Gummiknüppeln wird es auch in Zukunft nicht fehlen. Also wird das, was passiert ist, sich wiederholen kön­nen: Die Springerpresse wird weiter hetzen können.

Die Grenze zwischen verbalem Protest und physischem Widerstand ist bei den Protesten gegen den Anschlag auf Rudi Dutschke tatsächlich, nicht nur symbolisch- überschritten worden. Nach dem 2. Juni wur­den Springerzeitungen nur verbrannt, jetzt wurde die Blok­kierung ihrer Auslieferung versucht. Am 2. Juni flogen nur Tomaten und Eier, jetzt flogen Steine‚jetzt hat es tatsächlich ge­brannt.
Stellen wir fest: Diejenigen, die von politischen Machtpo­sitionen aus Steinwürfe und Brandstiftung hier verurteilen, nicht aber die Hetze des Hauses Springer, nicht die Bomben auf Vietnam, nicht Terror in Persien, nicht Folter in Südafrika, diejenigen, in den Massenmedien die Wahrheit über BILD und BZ ver­breiten könnten, stattdessen Halbwahrheiten über die Stu­denten verbreiten, sie wollen genau das, was wir, nicht wollen: Politik als Schicksal, entmündigte Massen, eine ohnmächtige, nichts und niemanden störende Opposition, demokratische Sand­kastenspiele, wenn es ernst wird: den Notstand.
Stellen wir fest: Es ist dokumentiert worden, daß hier nicht einfach einer über den Haufen geschossen werden kann, dass der Protest gegen die Massenverblödung durch das Haus Springer ernst gemeint ist. Es ist dokumentiert worden, daß es in diesem Land noch Leute gibt, die Terror und Gewalt nicht nur verurteilen und heimlich dagegen sind, sondern daß es Leute gibt, die bereit und fähig sind, Widerstand zu leisten, so daß begriffen werden kann, daß es so nicht weiter geht. Es ist ge­zeigt worden, daß diese Mordhetze und Mord die öffentliche Ruhe und Ordnung stören, daß es eine Offentlichkeit gibt, die sich das nicht bieten läßt. Daß ein Menschenleben eine andere Qualität ist als Fensterscheiben, Springer-LKWs und De­monstrantenautos. Nun, nachdem gezeigt worden ist, daß andere Mittel als nur Demonstrationen, Springer-Hearing, Protestveranstal­tungen zur Verfügung stehen, andere als die, die versagt ha­ben, weil sie den Anschlag auf Rudi Dutschke nicht verhin­dern konnten, nun, kann und muß neu und von vorne über Gewalt und Gegengewalt diskutiert werden. Gegengewalt, wie sie in diesen Ostertagen praktiziert worden ist, ist nicht geeignet, Sympathien zu wecken, nicht, erschrockene Libe­rale auf die Seite der Außerparlamentarischen Opposition zu ziehen. Gegengewalt läuft Gefahr, zu Gewalt zu werden. „Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ~ist, wenn ich dafür Sorge, daß das, was nur nicht paßt, nicht er geschieht.“
( konkret Nr.5,1968)


Bambule

In Fürsorgeerziehung kommen proletarische Jugendliche. Bürgerliche Familien haben kaum mit dem Jugendamt zu tun. Zu geringe Einkommen, zu viele Kin­der, zu kleine Wohnungen- Fürsorgeerziehung hat für die proletarische Familie zwei Funktionen: l. Die Familie zu entlasten, 2.den Jugendlichen zu disziplinieren. Fürsorgeerziehung ändert an den Ver­hältnissen nichts, aufgrund derer ein Jugendlicher aus der Bahn gekommen ist. Nicht daß die Lehrstelle mies war, interessiert das Jugendamt, sondern daß der Jugendliche sie verlassen hat. Nicht daß die Wohnung zu eng war und die Geschwisterzahl zu groß, um Schularbeiten machen zu können, sondern daß der Jugendliche Schule geschwänzt hat. Nicht daß er mit seinem Taschengeld nicht auskom­men konnte, sondern daß er geklaut hat. Nicht daß das Mädchen keine Klamotten hatte, wie es die Werbung be­fiehlt, sondern daß es auf den Strich gegangen ist. Mit Fürsorgeerziehung wird proletarischen Jugendlichen gedroht, wenn sie sich mit ihrer Unterprivilegiertheit nicht abfinden wollen.

Weil Fürsorgeerziehung dazu dient, den Jugendlichen zu disziplinieren, hat sie Strafcharakter, kann damit gedroht werden. Heimerziehung, das ist der Büttel des Systems, der Rohrstock, mit dem den proletarischen Jugendlichen einge­bläut wird, daß es keinen Zweck hat, sich zu wehren, keinen Zweck, etwas anderes zu wollen, als lebensläng­lich am Fließband zu stehen, an untergeordneter Stelle zu arbeiten, Befehlsempfänger zu sein und zu bleiben, das Maul zu halten. an der Situation von Fürsorgezöglingen ist ablesbar, welche Erziehungsvor­stellungen in einem Staat herrschend sind.Der äußere Zwang im Heim soll jenes Wohlverhalten er­zwingen, von dem man offenbar glaubt, daß es - lange genug erzwungen - verinnerlicht und zur Gewohnheit wird. Zwangsmittel im Heim, das sind: Bunker, Aus­gangssperre, Taschengeldentzug, Zigarettenentzug.

Der primäre Zusammenhang zwischen Heimleben und späterem Leben ist: Weil die Mädchen niemanden und nichts hatten und sich damit nicht abfinden wollten, ka­men sie ins Heim. Daran, daß sie niemanden und nichts haben, hat das Heim nichts geändert. Niemanden haben, das bedeutet, daß wenn man von der Arbeit kommt, keine Butter und kein Brot im Haus ist, wenn man nicht selber eingekauft hat. Niemanden haben, das bedeutet, daß einen keiner fragt, wie‘s war, wenn man von der Arbeit kommt. Niemanden haben, das be­deutet, daß, wenn man aus einem Zimmer rausfliegt, man auf der Straße sitzt. Wenn einem das Geld ausgeht, keinen zum Anpumpen hat. Keiner zu einem hält, wenn man übers Ohr gehauen wird. Niemanden haben bedeutet mit anderen Worten, daß man in Kneipen und Lokalen rumhängen muß, wenn man überhaupt jemanden treffen will, das bedeutet, Geld ausgeben, dass bedeutet die Nacht durchmachen, dass bedeutet, daß man nicht weiß, was das alles für einen Sinn hat. In dem Alter, in dem andere sich von ihren Familien trennen und Freunde finden und neue Kontakte aufbauen, waren die Mädchen im Heim. Im Heim kann man keine dauerhaften Bindungen eingehen, weder mit Erziehern, noch mit Zöglingen. Heim bedeutet Heimwechsel, Tren­nung von alten Freunden, neue Freunde, Trennung von den neuen Freunden, Trennung, Freunde, Trennung. Ver­wahrlosung -behaupten die Psychologen -sei unter an­derem die Unfähigkeit, feste Bindungen einzugehen. Heim, das ist die Unmöglichkeit, Bindungen einzugehen und festzuhalten.

Mädchen im Heim bekommen keine Ausbildung. Nicht einmal für den Haushalt werden sie ausgebildet im Heim. Wenn man sie von der Schulbank weg ins Heim gesteckt hat, ist es aus mit der Schule.Sie haben Beufsschulunterricht. Sie machen Leseübungen - wie der Liebe Gott den Tieren ihren Namen gab, sie erfahren, wie arm die indischen Hungerkinder sind. Über das Jugendarbeitsschutzgesetz über die ge­setzliche Gleichberechtigung der Frau und ihre praktische Diskriminierung im Betrieb erfahren sie nichts. Zur Diskriminierung dieser Jugendlichen gehört ihre Un­glaubwürdigmachung. Das betrifft nicht nur sie, auch ihre Eltern und Freunde. In der Klassengesellschaft ist Armut Schande, der Kriminalität benachbart. Arme sind unglaubwürdig.
Die Disziplinierung der bürgerlichen Jugend erfolgt über die Ausbildung. Der proletarische Jugendliche wird ge­radezu durch Ausbildungsverweigerung bestraft und dis­zipliniert.
Was gemeinhin für Mißstände in den Heimen gehalten wird, ist deren Praxis und Prinzip. Anpassung und Dis­ziplinierung sind das Erziehungsziel - hinter verschlos­senen Türen sind alle Mittel erlaubt.

Und wie werden diejenigen reagieren, die das lesen oder anhören? Die Mädchen sind skeptisch in Bezug auf den Nutzen solcher Unternehmungen.

Gewalt produziert Gegengewalt, Druck Gegendruck. Die Formen von Widerstand, die in den Heimen praktiziert werden, entwickeln sich immer nur spontan und planlos, unorganisiert, als Aufstand, Widerstand, Rabatz, als Bambule.
(1969) „Ich habe keine Lust mehr ein Autor zu sein, der die Probleme der Basis, z.B. der proletarischen Jugendlichen in den Heimen, in den Überbau hievt, womit sie nur zur Schau gestellt werden, daß sich andere daran ergötzen, zu meinem Ruhm. Ich finde den Film Scheiße. Das ist wirklich mein Problem. Nur ist mir jetzt wirklich klargeworden, daß ein Aufstand im Heim, die Organisation der Jugendlichen selbst, tausend mal mehr wert ist als zich Filme...Das habe ich kapiert, daß ich mit diesem Film nichts als ein ästhetisches Verhältnis zu den Problemen dieser proletarischen Jugend herstelle, daß das Gewäsch ist, Revolutionsgewäsch. Ein Fernsehspiel, daß die Mädchen verschaukelt, man darf sagen: ein Scheißspiel....Ändern wird sich nur etwas, wenn die Unterdrückten selbst handeln. Wer sie dabei unterstützen will, muß es praktisch tun, muß den Unterdrückten selbst helfen, sich zu organisieren, zu handeln, ihre Forderungen durchzusetzten... Es kommt darauf an selbst mitzumachen. Ich kann mir natürlich unter diesen Umständen auch keinen weiteren Film von mir vorstellen. Was ich vorhabe ist politisch zu arbeiten. Es ist nur konsequent und ich zum Glück noch nicht so korrupt, daß ich es nicht noch ticken konnte. (Briefe Meinhofs 1969/70 aus: Revolutionäres Gewäsch, Spiegel 1996) Ein Brief Ulrike Meinhofs aus dem Toten Trakt Aus der Zeit: 16.6.72 bis 9.2.73: das Gefühl, es explodiert einem der Kopf (das Gefühl, die Schädeldecke müßte eigentlich zerreißen, abplatzen) - das Gefühl, es würde einem das Rückenmark ins Gehirn gepreßt, das Gefühl, das Gehirn schrumpelte einem allmählich zusammen, wie Backobst z.B. das Gefühl, man stünde ununterbrochen, unmerklich, unter Strom, man würde ferngesteuert das Gefühl, die Assoziationen würden einem weggehackt - das Gefühl, man pißte sich die Seele aus dem Leib, als wenn man das Wasser nicht halten kann das Gefühl, die Zelle fährt. Man wacht auf, macht die Augen auf: die Zelle fährt; nachmittags, wenn die Sonne reinscheint, bleibt sie plötzlich stehen. Man kann das Gefühl des Fahrens nicht ab setzen. Man kann nicht klären, ob man vor Fieber oder vor Kälte zittert - man kann nicht klären, warum man zittert – man friert. Um in normaler Lautstärke zu sprechen, Anstrengungen, wie für lautes Sprechen, fast Brüllen -das Gefühl, man verstummt - man kann die Bedeutung von Worten nicht mehr identifizieren, nur noch raten – der Gebrauch von Zisch-Lauten - s, ß, tz, z, sch - ist absolut unerträglich -Wärter, Besuch, Hof erscheint einem wie aus Zelluloid - Kopfschmerzen - flashs- Satzbau, Grammatik, Syntax - nicht mehr zu kontrollieren. Beim Schreiben: zwei Zeilen - man kann am Ende der zweiten Zeile den Anfang der ersten nicht behalten - Das Gefühl, innerlich auszubrennen - das Gefühl, wenn man sagen würde, was los ist, wenn man das rauslassen würde, das wäre, wie dem anderen kochendes Wasser ins Gesicht zischen, wie z.B. kochendes Tankwasser, das den lebenslänglich verbrüht, entstellt - Rasende Aggressivität, für die es kein Ventil gibt. Das ist das Schlimmste. Klares Bewußtsein, daß man keine Überlebenschance hat; völliges Scheitern, das zu vermitteln; Besuche hinterlassen nichts. Eine halbe Stunde danach kann man nur noch mechanisch rekonstruieren, ob der Besuch heute oder vorige Woche war - Einmal in der Woche baden dagegen bedeutet: einen Moment auftauen, erholen - hält auch für paar Stunden an - Das Gefühl, Zeit und Raum sind ineinander verschachtelt -das Gefühl, sich in einem Verzerrspiegelraum zu befinden -torkeln - Hinterher: fürchterliche Euphorie, daß man was hört - über den akustischen Tag-Nacht­ Unterschied Das Gefühl, daß jetzt die Zeit abfließt, das Gehirn sich wieder ausdehnt, das Rückenmark wieder runtersackt - über Wochen. Das Gefühl, es sei einem die Haut abgezogen worden.

 

   
 
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