PROGRESS 3/2001

 

Circus meets Cultural Politics

 

Jennifer Miller ist eine extravagante Zirkusartistin. Sie ist die Gründerin und Direktorin des in New York City ansässigen, von queeren KünstlerInnen betriebenen Circus Amok. Die Solo-Show ”Morphadyke Madness” der lesbischen Bartträgerin mit jüdischer Herkunft wird demnächst in Wien zu sehen sein.

 

von Rosemarie Reitsamer

 

Circus Amok ist ein queerer Zirkus. Ein Zirkus mit einer Nachricht, die einen bleibenden Eindruck hinterläßt. Die homosexuellen ArtistInnen treten seit 1989 in öffentlichen Parks in New York City, zuletzt in der South Bronx, auf. Sie stellen Fragen an das Publikum. Fragen nach ihrer Lebenssituation, Fragen über die Politik von Bürgermeister Giuliani, Fragen zur Polizeigewalt. Das Publikum in der South Bronx ist begeistert. In den anderen Teilen der Stadt sind die Reaktionen auf die queere Polit-Freak-Shows allerdings unterschiedlich. Negative Antworten gibt es in den wohlhabenden Vierteln von New York City. Pier 25 in Tribeca ist eines davon. Dort lebt die ”most moneyed audience”, wie Miller sie nennt. ”Wir bringen beängstigende Eindrücke in die geschützte Welt der Pier-25-Leute. Für den Rest der New YorkerInnen sprechen wir allerdings über Dinge, die tagtäglich in ihrem Leben passieren.” Auch bei einem Auftritt in Williamsburg verließen einige ZuseherInnen den Raum. Sie fanden den Künstler anstößig, der mit Büstenhalter und Strumpfbändern bekleidet war.

Neben dem Zirkus versucht Jennifer Miller sich mit so genannten Side-Shows in Theater und Zirkus über Wasser zu halten. Das war nie geplant, aber vor einigen Jahren sprach sie ein Produzent an: ”Wir suchen eine bärtige Frau. Interesse?” Rückblickend weiß sie nicht mehr, was sie geantwortet hat. Sie dachte nur an die Realisierung einer Idee. ”Ich will den Wurzeln der Ikonographie von Freaks nachgehen.”

Als Miller zwölf Jahre alt war, begann ihr Bart zu wachsen. Einen Vollbart trägt sie seit dem Ende ihrer Zwanziger. Viele Zeitungsartikel fokusieren die ”bearded lady”. Ihre Arbeit als Artistin kommt dabei meist zu kurz. Miller: ”Ich bin immer glücklich, wenn Artikel mehr meine Arbeit als meinen Bart in den Vordergrund stellen.” Eine ihrer Side-Show-Nummern trägt den Titel ”Zenobia”: Ein Stück, das vom Leben einer ”bearded lady” handelt. Sie hat es oft und gerne gespielt und dabei Fragen der Selbstpräsentation und Präsentation von Freaks thematisiert.

Bei ihrem Auftritt Ende November in Wien wird Miller ihre Show ”Morphadyke Madness” vorstellen. Sie wird Feuer schlucken, Glasscherben zerkauen, mit messerscharfen Macheten jonglieren, Gedichte von Allen Ginsburg rezidieren. Und nicht darauf vergessen, dem Publikum eine Lektion in Gender, Sexualität, Freakness und Differenz zu erteilen. Durch Millers Witz und Selbstironie sollen die ZuschauerInnen die Gültigkeit von gesellschaftlichen Normen, Werten und Vorstellungen hinterfragen. Lassen Sie sich verführen …

 

 

PROGRESS sprach vor ihrem Wien-Besuch Ende November mit Jennifer Miller.

 

Kannst du etwas über deine politische Arbeit im Rahmen vom Circus Amok sagen?

Der Zirkus ist ein wunderbarer Weg, um politische Arbeit zu machen. Ich kann gleichzeitig informieren, agitieren, kommunizieren und Überraschungen kreieren. Jeder Zirkus hat einen thematischen Schwerpunkt, ein Rahmenthema mit dem er sich beschäftigt. Wir fokusieren die Lebensbedingungen der New YorkerInnen. Dazu zählen auch die ökonomischen Verhältnisse und die Gesundheitsversorgung; viel Zeit haben wir in die Thematisierung der schrecklichen Politik von Bürgermeister Giuliani investiert. Ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit lag darin, die Utopien zu verarbeiten, die während des Milleniumsfiebers aufgekommen sind. Die Themen sind unterschiedlich, aber wir vergessen nie, unsere Queerness zur Schau zu stellen. Ein Queer-Zirkus kommt in deine Nachbarschaft, spricht über wichtige Dinge und vergisst dabei nicht zu jonglieren, zu tanzen und zu unterhalten.

 

Wie kommen deine jüdische Herkunft und deine lesbische Identität in deiner Arbeit vor?

Weder mein Jüdisch-Sein noch meine lesbische Identität sind bewusst Teile der einzelnen Shows, aber sie sind beide ein großer Teil in mir und meiner Erfahrungen. Und somit kommen sie auch in meinen Shows vor.

 

Deine Mutter musste vor den Nazis fliehen und immigrierte in die USA. Wie fühlst du dich bei dem Gedanken, in einem Land aufzutreten, aus dem deine Mutter flüchten musste?

Ich fürchte mich ein wenig vor dem Gefühl, in Wien zu sein – der Stadt, in der meine Familie lebte – und nicht zu wissen, an welchen Orten ich nach ihnen suchen sollte. Ich weiß nicht, wo sie wohnten, wo meine Großeltern in die Schule gingen, wo sie arbeiteten, in welche Lokale sie gingen. Viele meiner Familienmitglieder sind tot, und die wenigen, die noch leben, haben keine Antworten auf diese Fragen. Ich fürchte mich vor der großen Leere und dem großen Verlust, unter dem sehr viele jüdische Menschen leiden. Ich fürchte mich vor den Empfindungen, die in mir erwachen, wenn ich in den Straßen stehe, wo einst meine Familie stand und fliehen musste.

 

Kasten

”Morphadyke Madness” von und mit Jennifer Miller

Kosmos.Frauenraum, 1070 Wien, Siebensterngasse 42

www.kosmos.frauenraum.at; Tel.: 01/5231226

28. bis 30. November 2001