Jennifer
Miller ist eine extravagante Zirkusartistin. Sie ist die Gründerin und
Direktorin des in New York City ansässigen, von queeren KünstlerInnen
betriebenen Circus Amok. Die Solo-Show ”Morphadyke Madness” der lesbischen
Bartträgerin mit jüdischer Herkunft wird demnächst in Wien zu sehen sein.
von
Rosemarie Reitsamer
Circus
Amok ist ein queerer Zirkus. Ein Zirkus mit einer Nachricht, die einen
bleibenden Eindruck hinterläßt. Die homosexuellen ArtistInnen treten seit 1989
in öffentlichen Parks in New York City, zuletzt in der South Bronx, auf. Sie
stellen Fragen an das Publikum. Fragen nach ihrer Lebenssituation, Fragen über
die Politik von Bürgermeister Giuliani, Fragen zur Polizeigewalt. Das Publikum
in der South Bronx ist begeistert. In den anderen Teilen der Stadt sind die
Reaktionen auf die queere Polit-Freak-Shows allerdings unterschiedlich. Negative
Antworten gibt es in den wohlhabenden Vierteln von New York City. Pier 25 in
Tribeca ist eines davon. Dort lebt die ”most moneyed audience”, wie Miller sie
nennt. ”Wir bringen beängstigende Eindrücke in die geschützte Welt der
Pier-25-Leute. Für den Rest der New YorkerInnen sprechen wir allerdings über
Dinge, die tagtäglich in ihrem Leben passieren.” Auch bei einem Auftritt in
Williamsburg verließen einige ZuseherInnen den Raum. Sie fanden den Künstler
anstößig, der mit Büstenhalter und Strumpfbändern bekleidet war.
Neben
dem Zirkus versucht Jennifer Miller sich mit so genannten Side-Shows in Theater
und Zirkus über Wasser zu halten. Das war nie geplant, aber vor einigen Jahren
sprach sie ein Produzent an: ”Wir suchen eine bärtige Frau. Interesse?”
Rückblickend weiß sie nicht mehr, was sie geantwortet hat. Sie dachte nur an
die Realisierung einer Idee. ”Ich will den Wurzeln der Ikonographie von Freaks
nachgehen.”
Als
Miller zwölf Jahre alt war, begann ihr Bart zu wachsen. Einen Vollbart trägt
sie seit dem Ende ihrer Zwanziger. Viele Zeitungsartikel fokusieren die
”bearded lady”. Ihre Arbeit als Artistin kommt dabei meist zu kurz. Miller:
”Ich bin immer glücklich, wenn Artikel mehr meine Arbeit als meinen Bart in den
Vordergrund stellen.” Eine ihrer Side-Show-Nummern trägt den Titel ”Zenobia”:
Ein Stück, das vom Leben einer ”bearded lady” handelt. Sie hat es oft und gerne
gespielt und dabei Fragen der Selbstpräsentation und Präsentation von Freaks
thematisiert.
Bei
ihrem Auftritt Ende November in Wien wird Miller ihre Show ”Morphadyke Madness”
vorstellen. Sie wird Feuer schlucken, Glasscherben zerkauen, mit messerscharfen
Macheten jonglieren, Gedichte von Allen Ginsburg rezidieren. Und nicht darauf
vergessen, dem Publikum eine Lektion in Gender, Sexualität, Freakness und
Differenz zu erteilen. Durch Millers Witz und Selbstironie sollen die
ZuschauerInnen die Gültigkeit von gesellschaftlichen Normen, Werten und
Vorstellungen hinterfragen. Lassen Sie sich verführen …
PROGRESS sprach vor
ihrem Wien-Besuch Ende November mit Jennifer Miller.
Kannst du etwas über
deine politische Arbeit im Rahmen vom Circus Amok sagen?
Der
Zirkus ist ein wunderbarer Weg, um politische Arbeit zu machen. Ich kann
gleichzeitig informieren, agitieren, kommunizieren und Überraschungen kreieren.
Jeder Zirkus hat einen thematischen Schwerpunkt, ein Rahmenthema mit dem er
sich beschäftigt. Wir fokusieren die Lebensbedingungen der New YorkerInnen. Dazu
zählen auch die ökonomischen Verhältnisse und die Gesundheitsversorgung; viel
Zeit haben wir in die Thematisierung der schrecklichen Politik von
Bürgermeister Giuliani investiert. Ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit lag
darin, die Utopien zu verarbeiten, die während des Milleniumsfiebers
aufgekommen sind. Die Themen sind unterschiedlich, aber wir vergessen nie,
unsere Queerness zur Schau zu stellen. Ein Queer-Zirkus kommt in deine
Nachbarschaft, spricht über wichtige Dinge und vergisst dabei nicht zu
jonglieren, zu tanzen und zu unterhalten.
Wie kommen deine
jüdische Herkunft und deine lesbische Identität in deiner Arbeit vor?
Weder
mein Jüdisch-Sein noch meine lesbische Identität sind bewusst Teile der einzelnen
Shows, aber sie sind beide ein großer Teil in mir und meiner Erfahrungen. Und
somit kommen sie auch in meinen Shows vor.
Deine Mutter musste vor den Nazis fliehen und
immigrierte in die USA. Wie fühlst du dich bei dem Gedanken, in einem Land
aufzutreten, aus dem deine Mutter flüchten musste?
Ich fürchte mich ein wenig vor dem
Gefühl, in Wien zu sein – der Stadt, in der meine Familie lebte – und nicht zu
wissen, an welchen Orten ich nach ihnen suchen sollte. Ich weiß nicht, wo sie
wohnten, wo meine Großeltern in die Schule gingen, wo sie arbeiteten, in welche
Lokale sie gingen. Viele meiner Familienmitglieder sind tot, und die wenigen,
die noch leben, haben keine Antworten auf diese Fragen. Ich fürchte mich vor
der großen Leere und dem großen Verlust, unter dem sehr viele jüdische Menschen
leiden. Ich fürchte mich vor den Empfindungen, die in mir erwachen, wenn ich in
den Straßen stehe, wo einst meine Familie stand und fliehen musste.
”Morphadyke
Madness” von und mit Jennifer Miller
Kosmos.Frauenraum,
1070 Wien, Siebensterngasse 42
www.kosmos.frauenraum.at; Tel.: 01/5231226
28. bis 30. November 2001