Ceiberweiber 12.10.2001

 

"Fremd Körper" im Kosmos Frauenraum

"Der Ehrgeiz der magersüchtigen Frau ist schrankenlos. Erstrebt wird ein Zustand, in dem sie sich selbst genügt durch die Zuflucht in ein geschlossenes System, auf das die Außenwelt keinen Einfluß ausüben kann." schreibt Patricia Bourcillier in ihrem 1992 erschienen Buch "Magersucht und Androgynie", das dieses Thema überaus spannend und aufschlussreich behandelt. Rund 200 000 Frauen leiden in Österreich derzeit unter Essstörungen. Etwa 5% der Betroffenen sind Männer. Jede von uns kennt eine aus ihrer unmittelbaren Umgebung, die an Magersucht (Anorexie) oder Bulimie (Ess- und Brechsucht) erkrankt ist. Oder hat es selbst schon erlebt. Oder erlebt es gerade.

In "Fremd Körper" von Andreas Staudinger geht es um dieses schwierige Thema, das nicht unkommentiert und reflektiert bleiben kann: Begleitend zu den Aufführungen seines Theaterstücks in Bregenz und Feldkirch gab es auch Seminare und Diskussionen, wie zum Beispiel unter dem Titel: "Schlankheitskult und Körperwahn". In Wien wurde das Stück, wo es ursprünglich im Rahmen der "Schaufenster"- Reihe im Schauspielhaus zu sehen war, im Kosmos Frauenraum unter der Regie von Evelyn Fuchs vom 10. bis 13. Oktober aufgeführt.

"Die Idealfigur ist gestaltlos, ohne Fülle und in der Schwebe. Der Körper ist kein Körper mehr, sondern ein Körperbild, ein phantasiertes Körperbild, in das diese meist jungen Frauen sich in Unberührbarkeit entfremden. Für sie ist Nahrung die Hölle, nicht das Leben." So Patricia Bourcillier in ihrem eingangs erwähnten Buch. Die Hölle, das ist, was das Publikum gemeinsam mit Schauspielerin Vivian Bartsch und der Performance-Künstlerin Natascha Wöss durchwandert. Gnadenlos bis zum bitteren Ende martert sich die magersüchtige junge Frau in artifizieller, sich selbst umkreisender Sprache, ritualisiert und sich wiederholend: Das Elend, das immer wiederkehrt.

Kein Happy End und kein Aufatmen für die ZuschauerInnen. Keine Erfolgsstory, in der die vom Weg abgekommene Heldin doch noch lernt, sich zu lieben und zu akzeptieren und die Wunde sich schliesst: Verstört bleibt die ZuschauerIn zurück, und nach dem Verlassen des Theaters ist es nicht weit bis zur nächsten Palmers-Werbung. Unversöhnlich ist die Gewalt der Bilderflut, mit der Frauen jeden Tag konfrontiert werden. Über das Frauenbild des 21. Jahrhunderts spricht auch der Autor Andreas Staudinger in einem Interview. Über das Bild, das "Männer ... gemeinsam mit der Industrie entwerfen und das Bild, das die Frauen von sich entwerfen müssen, wenn sie am Markt konkurrenzfähig sein wollen."

In "Fremd Körper" versucht er ein psychisches Feld zu entwerfen, in dem sich sowohl RegisseurIn als auch das Publikum selber ihren Weg suchen müssen. Das bedeutet auch, die ZuschauerInnen dazu zu bringen, sich mit dem zu befassen, was sie umgibt. Und selbst betrifft: die Krankheit ist nur der sichtbare Ausdruck dessen, was in der Gesellschaft die Körper-Norm bedeutet: "'Fett' ist in unserer Gesellschaft absolut negativ besetzt. Fett steht für böse, dumm, hässlich und zeugt von mangelnder Willenskraft", führt Staudinger dazu aus. In der "kosmischen" Aufführung des Projekttheaters Vorarlberg spielt die eindrucksvolle Raumkonzeption von Doris Hotz eine bedeutende Rolle: Schneeweisse Leinenfluchten, die ein Gefühl von Isolation, von Ein- und Ausgeschlossenheit hervorrufen.

Eingeschlossenheit und die Assoziation zur Gebärmutter, aber auch zu einem Sarg, löst die im hinteren Teil des entworfenen Raums installierte "Höhle" aus: Dorthin verkriecht sich auch immer wieder die Butoh-tänzerin Natascha Wöss, die mit starrer Mimik und Gestik den Spiegel, das Selbst und den verachteten Körper der "Kranken" gekonnt darstellt. Vivian Bartsch, bekannt aus Ulrich Seidels Film "Models", muss in diesem Stück bis an ihre Grenzen gehen: Schreien, verzweifeln. Emotionale Gradwanderungen bis zum Kollaps. Für die ZuschauerIn ein mitreissendes und schmerzvolles Ereignis. Für die Figur der "Kranken" diente Andreas Staudinger die tragische Lebensgeschichte von Ellen West als Vorlage.

Jedoch lediglich als historische Folie, nicht als Biographie, die im Stück nacherzählt werden würde. Ellen West, die sich 1924 im Alter von 33 Jahren nach langjähriger Magersucht das Leben nahm, ist der erste dokumentierte "Fall" für "anorexia nervosa". Sie diente dem Schweizer Psychiater Ludwig Binswanger als Modellfall. Neben der Krankengeschichte des Psychiaters sind auch zahlreiche private Aufzeichnungen von Ellen West über ihren verzweifelten Kampf gegen sich selbst erhalten geblieben.

Über Magersucht und Bulimie schreibt Patricia Bourcillier in "Magersucht und Androgynie": "Die Anorexie als vollständige Essensverweigerung ist ... das Gegenteil der Bulimie. Es handelt sich bei ihr nicht um einen Mangel an Appetit, wie es der medizinische Fachausdruck 'Anoressia' (Appetitlosigkeit) suggeriert, sondern um einen Kampf gegen den Appetit und damit um eine aktive und eigensinnige Weigerung, sich zu ernähren.(...) Die Bulimikerin ißt in der Tat, um sich zu beruhigen und sich lebendig zu fühlen; sie hat aus ihrer Kindheit die physische Begierde des Körpers und auch dessen Kraft behalten. Sie fühlt sich ihres Körpers sicher. Er trägt in sich die Spuren ihres Leids. Ganz im Gegensatz hierzu lehnt die Anorektikerin ihren Körper ab und versucht ihn zu vergessen und ins Geistige zu überhöhen."

Im das Stück "Fremd Körper" begleitenden Folder schreibt eine Betroffene, die hier (http://www-ang.kfunigraz.ac.at~hiebel/betroffen.html) kontaktiert werden kann, über den Übergang von Bulimie und Anorexie: "Die Bulimie war so anstrengend und fiel mir so schwer, dass ich begann, das Essen immer mehr einzustellen. In vielen Dingen galt 'Alles oder Nichts'. Entweder aß ich gar nichts oder zuviel." Warum heisst Bulimie eigentlich in medizinischen Publikationen zum Thema "Fress (!) und Brechsucht"??

Text und Bilder: Petra Hübl

Weitere Informationen zu Essstörungen:
http://www.magwien.gv.at
http://www.magersucht-online.de
http://www.magersucht-online.de/adr_aut.htm
Das Buch von Patricia Bourcillier zum downloaden auf http://www.magersucht.com